Warum Agile Coach nicht die Evolutionsstufe von Scrum Master ist

Manche Pokémon evolvieren, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen. Sie werden dadurch zu einem neuen Wesen mit neuen Eigenschaften, neuen Fähigkeiten und manchmal auch einem neuen Typ. Pikachu wird zu Raichu. Schiggy wird zu Schillok. Bisasam wird zu Bisaknosp. Scrum Master wird zu Agile Coach. Moment! Die letzte dieser Evolutionen wird zwar oft und gerne vollzogen, funktioniert aber eigentlich gar nicht. Agile Coach als automatische nächste Stufe von Scrum Master ist wie Terapagos als automatische nächste Stufe von Glumanda. Oder - um aus dieser Pokémon-Einleitung irgendwie wieder raus zu kommen - wie Käse als automatische nächste Evolutionsstufe von Brot. Hängt zwar beides irgendwie zusammen, ist beides essbar, ist aber dennoch nicht direkt verwandt. Und genauso ist es mit Scrum Master und Agile Coach: sie sind in zwei verschieden Welten zuhause.

Pokémon

Vom Laufen und vom Verändern #

Das klingt kompliziert, aber es ist ganz einfach. Und des Pudels Kern finden wir, indem wir - wie so oft - ein paar Schritte zurück gehen. Und dort treffen wir auf unsere Arbeitszwillinge: Run und Change. Doch bevor wir auf die eingehen, sollten wir noch einen weiteren kleinen Schritt zurück machen und über Arbeit reden. Was ist Arbeit? Fangen wir mit der “offiziellen” Definition an. Unser Gesetzgeber definiert Arbeit vor allem über den Aspekt Weisungsgebundenheit (§ 7 Absatz 1 SGB 4). Klingt sehr nach Metaebene. Als nächstes lohnt es sich oft, zu den Soziologen zu schauen. Für die ist Arbeit eine zweckdienliche, zielgerichtete, regelmäßig und dauerhaft stattfindende, körperliche und geistige Tätigkeit. Das klingt doch schon sehr komplett. Und was sagt die BWL? Die sieht Arbeit neben den Betriebsmitteln und Werkstoffen als einen der betrieblichen Produktionsfaktoren. Somit hätten wir den Begriff Arbeit recht gut umrissen, finde ich. (Und ich hoffe, Ihr findet das auch.)

Und nun machen wir wieder einen Schritt nach vorn. Run ist innerhalb dieses Rahmens “Arbeit” das Tagesgeschäft einer Organisation. Die wiederkehrenden Aufgaben, deren Erledigung sicherstellt, dass ein Unternehmen am Markt bestehen bleiben kann. Und Change? Change ist die Projektarbeit innerhalb einer Organisation. Also all die Tätigkeiten, die nicht wiederholend und auch nicht nach einem klar vorgegebenen Schema stattfinden. Hier sind wir Projektmenschen zuhause. Change verändert. Steckt ja schon im Namen drinnen.
Und ja, mir ist klar, dass wir das alle irgendwie und etwa und in irgendeiner Art und Weise ungefähr implizit eh wissen. Aber die Erfahrung zeigt, dass es gut ist, sich so Themen und Begriffe, die wir in unserem Alltag und unserer Sprache oft recht unbewusst verwenden, uns hin und wieder ganz explizit bewusst zu machen. Was das alles mit Scrum Mastern und deren vermeintlicher Evolution hin zum Agile Coach zu tun hat? Ganz einfach:

Scrum Master #

Scrum ist ein Projektmanagement-Framework. Der Scrum Guide ziert sich zwar mittlerweile ein wenig und ja, Scrum wird immer häufiger auch als Produktentwicklungsmethodik verwendet. Aber die Bewertung ist eindeutig. Wir machen hier Projekte. (Wer “Projekte” lieber durch einen hipperen Begriff ersetzen will, weil das dann alles viel agiler klingt, kann das gerne tun.) Was bedeutet das für uns? Die Scrum Master-Rolle ist ganz klar im Change zu verorten. Auch, wenn sie per Definition selbst viel mit Prozessen zu tun hat. Da wird ganz gerne übersehen, dass Projektmanagement nichts anderes ist, als die Anwendung von kleinteiligen Prozessen, um die Komplexität und die Unklarheit von Projekten greifbarer zu machen. (Ja, hierfür ist Scrum ein perfektes Beispiel.) Wenn der Scrum Master also im Change beheimatet ist, wie sieht es mit seiner vermeintlichen Evolution aus?

Agile Coach #

Richtig geraten: das natürliche Biotop des Agile Coaches ist unser Run. “Offizielle” Definition gibt es hier (noch) keine. Da muss sich erst ein wissenschaftlicher Konsens bilden. Aber der Industriestandard und die Literatur sagen: ein Agile Coach hilft Organisationen oder einem Teil einer Organisation, sich auf agile Art und Weise um die wiederkehrende Arbeit herum zu organisieren. (Meine Deutschlehrerin hätte mir hier jetzt eine doppelte Wortwiederholung angestrichen, aber es zählt der Inhalt und nicht das Erzählte.) Hier sind wir auch in zwei unterschiedlichen Arten von Agilität unterwegs. Die oder den Scrum Master finden wir im agilen Projektmanagement, die oder den Agile Coach in der Business Agility.

Heißt das, dass ein Scrum Master nicht zum Agile Coach werden kann? Nein, definitiv nicht. Aber es ist nicht der logische Aufstieg. Die beiden Rollen sind auf verschiedenen Ebenen einer Organisation unterwegs - der Scrum Master ist auf der Teamebene (wobei er auch die Organisation im Auge und im Herzen haben sollte), der Agile Coach arbeitet auf dem zweiten und dritten Flight Level (ist aber auch definitiv im ersten aktiv) - aber eine Agile Coach-Rolle ist nicht die Beförderung für erfahrene Scrum Master. Eine gute Scrum Masterin ist nicht automatisch ein guter Agile Coach. Und vice versa.

Jobs! Jobs! Jobs! #

Ha!, werden jetzt manche sagen. Und was ist mit den Job Annoncen, in denen nach “Scrum Master / Agile Coach (w/m/d)” gesucht wird? Die Antwort ist genau so einfach, wie sie traurig ist: Verzweiflung. Und vielleicht auch eine Dosis Missverständnis. Erfahrene Scrum Master sind rar gesät. Und nach einigen Jahren der Scrum Masterei wächst in vielen dieser rar gesähten erfahrenen Scrum Mastern der Wunsch, den nächsten Schritt zu machen. Und da sind wir wieder bei unserer Misskonzeption. Wenn ich der Meinung bin, dass nach dem “Senior Scrum Master” karrieretechnisch der “Junior Agile Coach” kommt und wenn ich keine erfahrenen Scrum Master finde, dann werde ich halt auch nach Agile Coaches suchen. Das ist genau so erfolgsversprechend wie das produktivste Teammitglied zum Manager zu befördern. Werde ich als Unternehmen dann das bekommen, was ich benötige? Das kann bezweifelt werden.

Conclusio #

Was bedeutet das für uns? Außer, dass wir etwas über Pokémon gelernt haben. Agile Coaches sind im Run, Scrum Master sind im Change zuhause. Und hier kommt der Plot Twist: in letzter Zeit verschwimmt in vielen Bereichen die Grenze zwischen Run und Change immer mehr. Hier wird sich zeigen, ob und wie weit sich zwischen der Scrum Master-Rolle und der Agile Coach-Rolle in ein paar Jahren noch klar differenzieren lässt. Und heute und jetzt? Haben wir eine verbindende Klammer. Agilität im Sinne des Agilen Manifesto. Auch, wenn die Rollen zwei verschiedene Paar Schuhe sind, so stehen diese Schuhe dennoch im selben Regal. Und das ist es doch, worum es geht: gemeinsam die eigene Organisation voranbringen. Zu kitschig? Mag sein. Aber wahr ist es auf jeden Fall.

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