Halbwertszeit des Wissens

👋 Schön, dass Du hier bist! Bitte beachte, dass dieser Artikel bereits einige Jahre auf seinem Buckel hat. Seitdem haben sich nicht nur die Welt, sondern auch meine Wissenslücken, Erfahrungen und Ansichten geändert. Dennoch stehe ich hinter den Aussagen, die ich damals getätigt habe. Selbst dann, wenn ich sie mittlerweile anders tätigen würde. Bitte behalte dies beim Lesen im Hinterkopf. Danke. Und viel Vergnügen!

Was die Halbwertszeit des Wissens ist und wie sie uns Projektmenschen betrifft. Plus fünf Tipps, wie wir am besten damit umgehen. Und ein riesen Plot-Twist ganz am Schluß.

Halbwertszeit des Wissens

Die wilden sechziger #

Ich bin ja der Meinung, dass man ganz vorne beginnen muss, um etwas verstehen zu können. In unserem Fall heißt das, wir müssen uns ins Jahr 1962 begeben. Zu dieser Zeit haben nicht nur Autos richtig gut ausgesehen, in diesem Jahr hat Fritz Machlup auch das Konzept der “Halbwertszeit des Wissens” postuliert. Machlup - einer von vielen Österreichern, die in den dunklen 1930er Jahren verjagt wurden - war einer der ersten, die Wissen als Ressource verstanden. Auf ihn geht auch der Ausdruck Informationsgesellschaft zurück. Und 1962 eben hat er, angelehnt an die Halbwertszeit, die wir aus der Physik kennen, eine Kennzahl definiert: die Zeit, die vergeht, bis die Hälfte unseres erworbenen Fachwissens obsolet oder falsch geworden ist.

Aber... #

Auch auf die Gefahr hin, mich gleich im zweiten Absatz dieses Artikels selbst zu untergraben. Aber man muss natürlich anmerken, dass das Konzept der Halbwertszeit des Wissens nicht frei von Kritik ist. Vor allem, dass das Konzept sehr einfach gehalten und verallgemeinernd sei. Und ja, das stimmt teilweise wohl auch. Klar, so eine Wissensobsolierung (erwischt, das Wort Obsolierung habe ich gerade erfunden) ist stark abhängig von Fachgebiet. Das Wissen, wie man Steinformationen erkennt, wird nicht so schnelllebig sein, wie Fachwissen in der IT. Und oft finden wir auch innerhalb eines Fachgebietes riesen Unterschiede. Das Wissen einer Webentwicklerin wird schneller überholt sein, als das eines Mainframe-Softwareentwicklers.

Hier müssen wir allerdings auch aufpassen: manchmal komme ich mit veraltetem Wissen “eh noch durch”. Gerade bei Menschen mit großen Komfortzonen kann ich diese Einstellung oft beobachten. Und ja, es gibt Umfelder, da reichen die 50%, die von meinem initialen Wissenserwerb übrig geblieben sind aus, um den Job gerade so zu erledigen. Ist das super? Oder eher traurig? Das muss jede und jeder für sich entscheiden. Fakt ist: auch in diesen Bereichen gibt es trotzdem so etwas wie eine Halbwertszeit des Wissens. Sie hat nur einen geringeren Effekt als vielleicht anderswo.

Auf jeden Fall #

Auf jeden Fall trifft eine Sache zu. Und ich weiß, ich erwähne das oft und zu jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit. Aber die Welt dreht sich immer schneller. Also hoffe ich, dass mir hier jetzt keine und keiner widerspricht:

Unser erworbenes fachliches Wissen ist immer kürzer verwendbar.

Die Halbwertszeit des Wissens war für technische Berufe 1962 bereits sehr kurz. Damals ging man von etwa 10 Jahren aus. (Im Vergleich zu 35 Jahren in den 1930er Jahren.) Heute, knapp 60 Jahre später, ist sie noch kürzer geworden. Und ich will hier jetzt gar nicht näher auf etwaige Ursachen, oder auf so Themen wie explicit knowledge und tacit knowledge eingehen, sondern Euch dazu anregen, sich über die Thematik Gedanken zu machen. Sprich:

Was heißt das nun für mich? #

Zwei Dinge. Lasst uns zuerst das Naheliegendere betrachten: im schlimmsten Fall verliert mein Team konstant an Wissen. Und ja, mir ist bewusst, dass ich das hier jetzt falsch formuliere. Das Wissen an sich wird ja nicht weniger, es wird weniger anwendbar. Aber im Endeffekt läuft es auf einen Wissensverlust hinaus, wenn Ihr mich fragt. Und das bedeutet, dass selbst das beste Wissensteilungskonzept in meinen Augen maximal die halbe Miete sein kann. Denn bevor ich Wissen teilen kann, muss ich es haben. Und wenn es konstant an Aktualität verliert, muss ich dafür sorgen, dass mein Team, meine Organisation konstant Wissen neu erwerben kann. Eine lernende Organisation.

Wir müssen also für eine Atmosphäre sorgen, die Wissenserwerb anregt. Das kann ich durch einen einfachen Zugang zu Lernplattformen und ein Zeitkontingent, das für Weiterbildung zur Verfügung steht, recht gut anregen. Ich habe hier öfter einen Wert von 10% bis 15% der Arbeitszeit erlebt. Das hört sich auf den ersten Blick nach viel an. Vor allem, wenn gerade ein Projekt abzuwickeln ist. Auf den zweiten Blick und Anbetracht der Halbwertszeit des Wissens ist das aber ein vernünftiger Wert. Und nun ist es extrem wichtig, die Teammitglieder dazu zu bewegen, dieses Angebot zu nutzen. Es ist ja in beider Seiten Sinne. Und die beste Motivation ist meiner Erfahrung nach auch hier das Vorbild. Wenn ich Dinge zum Positiven bewegen will, muss ich voran schreiten.

Der Blick in den Spiegel #

Jetzt haben wir also hoffentlich einen guten Ansatz für unser Team gefunden. Damit und somit sind wir fertig. Oder? Hm. Da haben wir vor lauter Fokus auf die anderen ganz auf uns vergessen. Wir Projektmenschen sind natürlich genauso vom Wissensverfall betroffen. Mehr noch, als andere, die oft innerhalb Teams mit ähnlichen Fachbereichen und -themen arbeiten. Und wie können wir unser Wissen aktuell halten? Im Idealfall können wir auf dieselben Strukturen zugreifen, die unsere Teams haben. Und wenn wir Glück haben, sind wir Teil eines Project Management Offices, das für einen regen Wissensaustausch und Wissensneuerwerb von uns sorgt. Auf jeden Fall braucht es aber unser Bewusstsein, dass wir hier konstant quasi Wissenshygiene betreiben müssen. Dass wir uns konstant (weiter-)entwickeln und verändern. (Da sind wir wieder bei meinem Lieblingsthema Kaizen.) Das dürfen wir gerade im stressigen Projektalltag nicht übersehen. Sonst legt sich irgendwann der Staub und wir stellen fest, dass alle anderen weiter sind und wir alleine dastehen.

Und wie gehe ich mit der Halbwertszeit des Wissens um? #

  1. Bewusstsein. Erstens, dass es so etwas wie eine Halbwertszeit des Wissens gibt. Zweitens, dass diese Halbwertszeit des Wissens unser Fachwissen betrifft, nicht das "soziale" Wissen.
  2. Evaluierung (Umfeld, vorhandene Ausbildungen, aktueller Wissensstand, etc.), dann eine darauf passende Strategie.
  3. Fokussierung auf wichtiges Wissen. Unwichtiges darf gerne erodieren. (Liechtenstein zum Beispiel, ist das einzige Land der Erde, in dem jeder Fußballverein mindestens einmal im Cupfinale stand. Faszinierend, nicht wahr? Aber vollkommen unwichtig. Außer, man ist Professorin auf dem Lehrstuhl für Liechtensteinische Fußballgeschichte.)
    4.Weiter, weiter, weiter. (Ich schreib das nur, damit ich nochmal Kaizen erwähnen kann. Nein, im Ernst: das ist für mich das Wichtigste überhaupt im beruflichen Leben.)
  4. Und zum Schluß eine Erkenntnis: "angeborene" Skills sind vielleicht doch und noch wichtiger, als wir eigentlich immer denken. Darauf sollten wir bei der Mitarbeiterauswahl ein besonderes Auge haben.

Wie gesagt, das Konzept der Halbwertszeit des Wissens hat auch Kritiker. Aber vielleicht ist auch einfach das, was 1962 noch state-of-the-art war, heute nicht mehr ganz so aktuell. Und somit ist das Ganze vielleicht ein Beweis in sich selbst. Ich wünsche Euch viel Vergnügen beim darüber Nachdenken!

Vielen Dank für Deine Zeit! Du kannst den Artikel gerne teilen. Und ich freue mich immer, von Euch zu lesen. Bilder von Sharon McCutcheon auf Unsplash.

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