Der Unterschied zwischen Lean und Agilität

Was ist eigentlich genau der Unterschied zwischen Lean und Agilität?

Unterschied Lean Agilität

Der übliche Bezug auf (schlechte) Filme #

Wenig wird in unserer Welt voll Buzzwords öfter und lieber miteinander verwechselt, vermischt, verstrudelt, vernudelt, verwalkt, als zwei Begrifflichkeiten:

Lean und Agilität.

Wenn es um diese beiden geht, haben wir sehr oft ein ähnlich chaotisches Chaos wie die Proponenten und Koffer von What’s Up, Doc?. Und ähnlich wie der Richter gegen Ende des Films, stehen wir vor der Herkulesaufgabe, das ganze Kuddelmuddel zu entwirren. Aber wir haben ja unsere Geheimwaffe: Definitionen. Die haben uns in der Vergangenheit oft geholfen und die helfen uns auch hier. Also lasst uns mal definieren. (Und wer das schon immer mal wissen wollte: das Wort definieren kommt von lateinisch definire. Das wiederum setzt sich aus dem Präfix de-, mit der Bedeutung “ab-” und dem Wort finire, begrenzen oder beenden, zusammen. Das vergessen wir aber ganz schnell wieder, damit wir in unserem Kopf Platz für die wirklich wichtigen Dinge haben. Wie zum Beispiel die folgenden Zeilen.)

So viele Agilitäten #

Wie sehen sie also aus, die Definitionen von Agilität und Lean. Gleich bei der Agilität wird das schon mal recht kompliziert. Auch hier haben wir eine Wortherkunft aus dem Lateinischen. Agilitas, die Beweglichkeit, die Schnelligkeit. Das sagt uns in unserem Kontext genau nichts. Und eigentlich sagt uns das in unserem Kontext auch alles. Wir müssen es nur filetieren. Von welcher Agilität sprechen wir, wenn wir das Wort verwenden? Wenn ich die vielen Varianten, die in unserem Umfeld (also der Geschäftswelt) so um uns herumschwirren, so weit herunter breche wie es nur geht, dann komme ich auf drei relevante Spielarten.

Business Agility
Eine Organisation ist agil, wenn sie es schafft, sich ohne großen Aufwand an äußere Veränderungen zu adaptieren, diese Veränderungen vielleicht sogar teilweise zu antizipieren und einen Vorteil aus ihnen zu generieren. Das ist nichts Neues, hier sind wir tief in der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre des Erich Gutenberg. Nur die stete disruptive Veränderung, die ist neu. Aber dafür kann die Agilität nichts.
Agilität im Sinne des agilen Manifests
2001 publizierten einige Softwareentwickler und Projektleiter (falls sich wer wundert, warum ich hier nicht gendere - da war keine Frau dabei, leider) ihre Idee, wie Softwareentwicklung eigentlich ablaufen sollte. Es gibt wenig 68 Wörter auf der Welt, die so fehlinterpretiert und verbogen wurden, wie dieses Manifesto for Agile Software Development. Im Kern steckt hier und in den parallel veröffentlichten Prinzipien eine Philosophie drin. Das wird nur ganz gerne ignoriert. Im agilen Manifest geht es viel um Kundenzentrierung, Produktivität und Menschlichkeit. Wir haben hier also bei einer Agilität im Sinne des agilen Manifests ein Wertesystem vor uns. Nicht mehr und nicht weniger.
Agile Projektmanagementmethoden
Wenn wir an die Weinholdmatrix denken, dann haben wir verschiedene Gruppen von Projektmanagementmodellen die uns dabei helfen, unsere Projekte abzuwickeln. Wenn wir bei einem Projekt mit größeren Unklarheiten über das Was und das Wie konfrontiert sind, dann kommen wir mit den klassischen, prädiktiven Projektmanagementansätzen nicht weit. Und dann sind wir auch schon mittendrin im agilen Projektmanagement: “agil” ist hier ein Oberbegriff für Methoden, die uns dabei helfen, höhere Grade an Komplexität besser greifbar zu machen. Wer mehr wissen will, klickt hier.

Das sind die drei Qualitäten von Agilität, auf die ich so komme. Fühlt Euch bitte frei, für Euch und Euer Umfeld eine andere Gliederung zu finden.
Wenn wir also nun Agilität mit Lean vergleichen wollen, haben wir ein wenig mit allen drei obigen Varianten zu tun. Aber unser Fokus liegt in diesem speziellen Fall auf der Business Agility. Mit dem im Hinterkopf schauen wir hinüber zu Lean.

Es war einmal ein Produktionssystem #

Bei Lean ist das mit der Definition so eine Sache. Wenn man sich so umschaut, ist alles Lean: Kanban, Six Sigma, Total Quality Management, Continuous Improvement, Lean UX, Lean Thinking, Lean Production, Lean Management, Lean Alles. Das eine “Lean”, das gibt es nicht. Aber all diese Ausprägungen haben einen gemeinsamen Ursprung. Und dieser eine Ursprung hat wiederum viele Zuflüsse. Das haben Ursprünge ja oft so an sich. Unser Ursprung kommt aus einer Stadt in Japan namens Toyota. Diese ist das Zuhause von - richtig geraten - dem Autobauer Toyota. Der hatte um 1950 herum mit veritablen Problemen zu kämpfen. Auf der Suche nach Lösungen machte man sich auf den Weg in die USA. Dort hatte Henry Ford - ein genialer Entrepreneur und außerdem ein ziemlich durchgeknallter Verschwörungstheoretiker und Antisemit - in den 1910er-Jahren die erste Massenproduktion eines Automobils aus dem Boden gestampft. Toyota wollte sich dort Inspirationen holen, fand diese allerdings ganz woanders: in den damals überall aufpoppenden Supermärkten. Wie schaffen diese Supermärkte es, fragten sich die Ingenieure, dass sie immer genug Lebensmittel lagernd haben? Und die darauf folgende Frage: kann man dieses Konzept auf einen Autobauer umlegen? Spoiler Alert: kann man. Die daraus ersonnenen Ideen bündeln sich im Toyota Production System. Aus dem wurde in weiterer Folge kanban, beziehungsweise Lean Production und dann folgten die ganzen anderen Modelle, die sich als “lean” bezeichnen, oder sich darauf beziehen.

Im Prinzip basiert das Toyota Production System auf zwei Grundphilosophien:

Just In Time-Produktion - produziere das, was Du benötigst in der Menge, die Du benötigst und zu dem Zeitpunkt, an dem Du es benötigst. Also der Gedanke, die eigene Produktion so schlank wie möglich zu halten. Daher auch die Bezeichnung lean. (Und ich erspare Euch jetzt die Etymologie.)
Jidoka, auf englisch Autonomation, also eine Automation, über die der Mensch die Kontrolle hat.

Viel tiefer wollen wir an dieser Stelle gar nicht tauchen. Wir sind ja primär hier, um den Unterschied zwischen Lean und Agilität herauszuarbeiten. Doch davor müssen wir noch das genaue Gegenteil machen.

Von Gemeinsamkeiten und Unterschieden #

Lasst uns zuerst die gemeinsame Ebene finden. Das klingt jetzt komisch, aber in diesem konkreten Fall ist es in meinen Augen der beste Weg. Also. Wenn man Lean und Agilität auf ihren jeweiligen wesentlichen Kern herunterdampft, dann wird man feststellen, dass diese beiden Kerne sich sehr ähneln. Beide eint ein gemeinsames Ziel.

Lean und Agilität haben beide das Ziel, die Time to Market zu reduzieren.

Bei Lean ist dies schon aus dem Grundgedanken klar ersichtlich, besser gesagt aus dem Just in Time-Ansatz. Die Agilität hat die möglichst kleine Time to Market in ihrer DNA, um das Risiko durch Veränderungen zu mitigieren. Je länger meine Produktentwicklung benötigt, desto größer ist das Risiko, dass währenddessen etwas da draußen passiert, das bestenfalls Adaptionen nötig und schlimmstenfalls mein Produkt in der Form unverkäuflich macht. Und damit sind wir auch schon bei dem großen, wesentlichen Unterschied zwischen unseren beiden Welten.

Lean und Agilität unterschieden sich in ihren Ansätzen, wie die Time to Market reduziert werden kann.

Lean, aus dem Toyota Production System kommend, will durch eine möglichst schlanke Produktion schnell auf dem Markt sein. Es setzt also das Skalpell an und entfernt sämtliche Produktionsschritte, die nicht darauf einzahlen. Oder wie es Taiichi Ohno in seinem Meisterwerk Toyota Production System: Beyond Large-Scale Production (1988) formuliert: “All we are doing is looking at the time line from the moment the customer gives us an order to the point when we collect the cash. And we are reducing that time line by removing the non-value-added wastes.”
Agilität, auf der anderen Seite, setzt auf eine möglichst schnelle Adaption an Veränderungen. Dies geschieht durch adaptive Planung statt eines starren Planes und/oder durch schrittweise Verbesserung einer bestehenden Funktionalität und/oder durch schrittweises Hinzufügen von neuen Funktionalitäten. Zwei verschiedene Wege also, die aber beiden zum selben Ziel hinführen.

Fin #

Was nehmen wir hier mit? Ich denke, drei Dinge sind es, die wir in unseren Doggy Bag eingepackt bekommen. Erstens, eine Definition für den Unterschied zwischen Agilität und Lean. Zweitens - und ich denke, dieses zweitens ist nicht weniger wichtig -, die Gemeinsamkeit, die die beiden Themen miteinander teilen. Und drittens, wie so oft, die Erkenntnis, dass es sich eigentlich immer lohnt, bei so Nicht-ganz-so-Klarheiten genauer hinzuschauen. Vor allem die manchmal doch recht verpönten Definitionen helfen uns in diesen Fällen sehr weiter. A propos: der lateinische Term finire, der im Wort definieren steckt, wird übrigens abgeleitet von finis, der Grenze. Und das wiederum ist die Herkunft des französischen Wortes fin. Ende.

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