Der Unterschied zwischen komplex und kompliziert

Viel wird darüber gesprochen, ob komplex und kompliziert zwei verschiedene Dinge seien. Werden die beiden Begriffe doch in unserer Alltagssprache oft synonym verwendet. Und diese erste Frage, die hier mitschwingt, die lässt sich schnell beantworten: komplex und kompliziert sind nicht das selbe. Aber was die beiden denn genau unterscheidet, das hört man leider nicht so oft. Dabei wäre die Antwort gar nicht so schwer. (Ich bin stolz auf mich, dass ich hier der Versuchung widerstanden habe, “gar nicht so kompliziert” zu schreiben.)

Unterschied kompliziert und komplex

Wenn der allgemeine Sprachgebrauch uns nicht weiterhilft, dann also auf zur Wissenschaft. Ansätze gibt es hier einige. Zum Beispiel sind für den Philosophen Sholom Glouberman “kompliziert” und “komplex” (neben “einfach”) Steigerungsformen des Schwierigkeitsgrades einer Problemlösung. In Dave Snowdens berühmten Cynefin Framework sind “kompliziert” und “komplex” die beiden Bereiche, in die Unbekanntes unterteilt wird. (Dave ist als Organisationsberater bekannt, hat aber ursprünglich - Achtung, unnützes Wissen - ebenfalls Philosophie studiert.) Und auch in der Soziologie werden kompliziert und komplex als Abstufungen gesehen. Das sind alles valide Ansätze. Nur haben die den Fokus woanders. Und somit liefern sie keine allgemeine Unterscheidung der beiden Begriffe. Die finden wir im Bereich der Mathematik. Das klingt gruselig (für mich zumindest), ist allerdings halb so wild. Also lasst uns gleich loslegen mit dem ersten Unterscheidungsmerkmal, der

Vorhersehbarkeit #

Genauer gesagt der Vorhersehbarkeit von Systemen. Und bevor es weitergeht, sollten wir hier eine Definition finden. In der Systemtheorie ist ein System

Also ist um unsere Projektwelt herum so ziemlich alles ein System. Diese Systeme sind oft verwirrend. Unmengen an verschiedenen Teilen, die alle durch diverseste Abläufe irgendwie miteinander verbunden sind. Aber das alleine macht sie noch nicht komplex. Systeme sind dann komplex, wenn ihr Verhalten nicht genau vorhersehbar ist.

Ich weiß, das ist sehr abstrakt und theoretisch. Also lasst uns eine Zeitmaschine bauen, 50 Jahre in der Zeit zurückreisen und dann einen Blick auf unser Handgelenk werfen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass wir dort ein perfektes Beispiel für ein kompliziertes System finden: eine mechanische Armbanduhr. Im Inneren dieser Uhr ticken Unmengen an Zahnrädern, Federn, Spiralen und sonstiger Obskuritäten, die alle irgendwie miteinander interagieren. Wer schon mal einen Blick auf ein solches Uhrwerk in Aktion geworfen hat, die oder der kennt das überwältigende Gefühl der Ahnungslosigkeit, das einen hier beschleicht. Aber das Resultat all dieser sich mit- und umeinander bewegenden Teilchen ist immer vorhersehbar: die Zeiger der Uhr bewegen sich in einem bestimmten Tempo über das Ziffernblatt. Ganz egal, wie verschachtelt das Innenleben des Gehäuses dahinter auch sein mag. Sprich, unsere Armbanduhr kann kompliziert sein, ist aber nicht komplex.

Und nun blicken wir von unserer Armbanduhr weg und um uns herum. Der Verkehr in unserer Heimatstadt mag - anbetracht der Größe der Stadt - aus relativ wenigen Teilen bestehen. Dennoch ist er nicht genau vorhersehbar. Ja, in der Frühe und Abends ist viel los, aber so genau können wir das nicht voraussagen. Die Verkehrssituation kann vielleicht manchmal kompliziert sein, ist aber auf jeden Fall komplex.
So viel zur Vorhersehbarkeit. Aber da gibt es noch ein zweites Unterscheidungskriterium. Die

Lösbarkeit #

Genauer gesagt, die Lösbarkeit von Problemen. Hier benötigen wir im Vorfeld nicht nur eine, sondern gleich zwei Definitionen:

Wenn unser Problem viele Facetten hat, wenn hier viele Dinge mit hineinspielen, dann ist es kompliziert. Je mehr Facetten, je mehr hineinspielende Dinge, desto komplizierter wird das Problem. Aber, und das ist wichtig, solange unser Problem lösbar ist, solange ist es nicht komplex. Egal wie viele Facetten ein solches Problem hat, egal wie viele Komponenten mit hineinspielen, egal wie groß es auch sein mag: erst wenn es nicht lösbar wird, dann ist das Problem komplex.

Exempel gefällig? Bleiben wir doch bei unserem obigen Beispiel, der mechanischen Armbanduhr. Wenn diese Uhr nicht mehr funktioniert, wir sie aber funktionierend benötigen, dann haben wir hier eindeutig ein Problem vor uns. Eine noch ungelöste Aufgabe. Ist dieses Problem kompliziert? Aber hallo! All diese winzigen Unruhen und noch winzigeren Zahnrädchen. Ist das Problem lösbar? Vielleicht nicht für uns, aber für Uhrmacher auf jeden Fall. Also ist der Fall kompliziert (aber nicht komplex).
Und auch unser obiger Verkehr ist hier ein gutes Beispiel. Er ist ein unlösbares - also komplexes - Problem/System. Wir werden es nicht schaffen, in unserer Stadt eine für immer staufreie Verkehrslösung zu bekommen.

Bedeutet das, dass komplexe Probleme immer unlösbar sind? Ja, das tut es. Doch mehr dazu später. Lasst uns vorher kurz Bilanz ziehen.

Zusammenfassung #

kompliziertkomplex
Ergebnis ist vorhersehbarjanein
Ergebnis ist nicht vorhersehbarmöglichja
Problem ist lösbarjanein
Problem ist nicht lösbarmöglichja

Komplizierte Systeme oder Problemstellungen sind mehr oder weniger schwer zu durchschauen, sind aber immer - und das ist der springende Punkt - vorhersehbar und lösbar.

Komplexe Systeme oder Problemstellungen können leicht oder schwer zu durchschauen sein, sind aber - und das ist der springende Punkt - immer unvorhersehbar und unlösbar.

Sehr einfache Systeme oder Problemstellungen können komplex sein. Sehr komplizierte Systeme können nicht komplex sein. Die beiden - komplex und kompliziert - können gleichzeitig auftreten, bedingen aber nicht einander. Es sind zwei vollkommen verschiedene Dinge.

Bedeutung #

Was bedeutet das nun für uns und unseren nicht-ganz-bis-gar-nicht-so-theoretischen Arbeitsalltag? Warum macht der Unterschied einen Unterschied? Auch hier hilft uns die gute alte Steinzeittaktik: das Mammut zerteilen. Wenn wir uns ein komplexes System ansehen und es in kleinere Komponenten zerlegen, sind die dem System zugrundeliegenden Prinzipien immer
immer
einfach und ökonomisch.
Das bedeutet, dass wir komplexe Systeme/Probleme zwar nicht vorhersagen oder lösen, aber auf jeden Fall sehr gut managen und notfalls umschiffen können. Und a propos Schiffe: wer versucht, komplexe Probleme zu lösen (“Lass uns da mal unsere klügsten Köpfe in einen Raum setzen und eine Lösung finden.”), der wird auf jeden Fall Schiffbruch erleiden. Unlösbar bedeutet unlösbar.

Ist das System, mit dem wir uns gerade auseinandersetzen anders? Dann ist es nicht komplex. Es ist kompliziert. Und jetzt wird es spannend. Systeme in der Wirtschaftswelt sind meistens kompliziert, weil sie kompliziert gemacht wurden. Und immer noch gemacht werden. Weil jedesmal, wenn ein Fehler auftritt, nicht überlegt wird, was aus dem System entfernt werden kann. Es wird hinzugefügt.

Neue Kontrollen.
Neue Richtlinien.
Neue Checklisten.
Neue Feature Switches.
Neue Rollen.
Neue Regeln.

Taiichi Ohno, der Mitgestalter von dem, was wir heute “Lean” nennen, hat einmal etwas sehr schlaues gesagt: "We look at the value stream. The whole thing. From customer order to delivery. And then we remove every step that is not creating value."
Was bedeutet das für uns? Komplizierte Problemstellungen können manchmal ziemlich - nun - komplizierte Kopfnüsse sein, deren Lösung uns einige Denkleistung abverlangt. Aber, und das ist hier der springende Punkt, sie sind immer vorhersehbar und lösbar. Und die Werkzeuge für diese Problemlösung, die haben wir bereits: unsere Prozesslandschaft.

Wenn wir also den Unterschied zwischen komplex und kompliziert kennen, komplexe Themen managen und komplizierte Themen lösen und ab und zu lächeln, dann kann uns nichts mehr aufhalten. Und jetzt lasst uns unsere Zeitmaschine starten und wieder zurück in die Gegenwart reisen.

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